• China ist Vorreiter beim autonomen Fahren: In Shanghai fahren autonome Fahrzeuge bereits souverän durch den dichten Stadtverkehr, während in Europa noch testweise auf Autobahnen experimentiert wird.

  • Technik funktioniert beeindruckend zuverlässig: Testfahrten mit Mercedes und Luxeed zeigen, dass autonome Systeme präzise, geschmeidig und sicher agieren – selbst im komplexen und chaotischen Stadtverkehr.


Artikel aus der FAZ

Staunend durch Shanghai

Der Durchbruch naht. Während sich bei uns die ersten Autopiloten vorsichtig auf die
Autobahn wagen, erobern sie in China schon die Innenstadt. Zwei Testfahrten ohne Hand
und Fuß, dafür aber mit offenem Mund.

Es ist Viertel nach Feierabend, in Pudong ist mal wieder die Hölle los.
Hunderttausende Büroarbeiter in Shanghais Business District drängen nach Hause, in den Schulen ist Schluss, und in den Geschäften herrscht Hochbetrieb. Kein Wunder, dass es auf den drei-, vierspurigen Straßen zugeht wie in einem Ameisenhaufen und sich zu den Millionen von Autos noch einmal doppelt so viele Scooter und Fahrräder gesellen. Die Frage, ob die Menschen automatisiertes Fahren möchten, stellt sich hier längst nicht mehr. Nur noch die, in welcher Ausprägung. Und wann die Computer das Lenkrad übernehmen werden. Was in Chinas Metropolen Alltag wird, wird mit Sicherheit auch auf europäische Straßen abstrahlen. Ohnehin wittern die Hersteller von Autos und Rechnern ein neues Geschäftsfeld mit schönen Erträgen.

Das Wissen um diesen, nennen wir ihn als jemand, der zumeist noch Freude am eigenen Fahren spürt, mal Fortschritt, ist jetzt keine bahnbrechende Erkenntnis. Wohl aber das Erlebnis, mit einem die technischen Möglichkeiten ausreizenden Fahrzeug unterwegs zu sein. Mercedes-Benz hat kürzlich das Umfeld der Automobilmesse in Shanghai genutzt, um zu demonstrieren, was an Autonomie einsetzbar wäre, wenn die Regulierung sie zuließe. Das Erprobungsfahrzeug ist mit einer Navigation ausgestattet, die nicht nur die Route kennt, sondern Lenken, Bremsen, Beschleunigen vollständig übernimmt. Auch in China sind bislang nur spezielle Gegenden der jungen Technik geöffnet, eine davon haben wir mit einem Prototyp des neuen CLA erkundet. Besser gesagt erkunden lassen, denn tatsächlich haben wir während unserer rund dreißigminütigen Testfahrt kaum anderes gemacht als gestaunt.

Alles entwirrt sich irgendwie

Pars pro toto mag jener Moment stehen, da der computergesteuerte Mercedes an einer recht großen Kreuzung zum Abbiegen nach links ansetzt und nicht etwa verängstigt in Schockstarre verharrt, sondern sich langsam, aber bestimmt in den mehrspurig fließenden Gegenverkehr vortastet. Wir lernen: Wer in China nicht ein bisschen forsch fährt, kommt nie voran. Alles entwirrt sich irgendwie, wir biegen links ab, das Auto beschleunigt geradeaus wieder, auf ein Tempo, das leicht über dem erlaubten zu liegen scheint. „Wir passen uns nach diversen Kriterien dem Verkehrsfluss an“, sagt Martin Hart, der die Softwareentwicklung des autonomen Fahrens leitet. Na klar, ein rollendes Verkehrshindernis wird niemand kaufen. Allein vor Schulen, da gilt Maximum 40 km/h, ohne Wenn und Aber. Dass uns dort ein paar andere Autos überholen, ficht den Mercedes nicht an, erst am Ende der Schulzone nimmt er wieder Fahrt auf.

Am berührungsempfindlichen Steuer ist nichts zu tun, außer es ab und an zu tippen und damit seinen Sensor zufriedenzustellen, denn die Stufe des automatisierten Fahrens heißt „Level 2 urban“ beziehungsweise „Punkt zu Punkt assistiert“. Der Fahrer trägt mithin noch die Verantwortung für das Geschehen, hat aber keinen Fuß auf dem Pedal und lenkt nur, wenn er will. Mercedes-Benz erlaubt es, den Computer zu überstimmen, man kann also mal für eine Sekunde ins Steuer greifen, ohne dass gleich das ganze System abschaltet.

Dreißig Minuten Testfahrt

Der CLA fährt allein los, stoppt an roten Ampeln, fährt bei Grün von Geisterhand wieder an, wechselt unter Setzen des Blinkers die Fahrspur, biegt rechts oder links ab.
Vor allem erledigt er all das in einer bemerkenswerten Geschmeidigkeit, die wir so noch nie erlebt haben. Radfahrer, Mopeds, Kinderwagen, Fußgänger, herumliegende Tüten oder Äste werden mit hoher Genauigkeit erkannt. In den dreißig Minuten Testfahrt kam es nur zu einer Situation, in der die Rechner ein Moped anders einschätzten als der Fahrer. Die vom Computer eingelegte Bremsung wäre nicht nötig gewesen, aber im Zweifel geht Sicherheit vor. Ob all das auch bei Starkregen oder Schneefall reibungslos funktionieren würde, konnten wir nicht probieren. Wie jeder Fahrer eines neueren Autos weiß, kapitulieren viele heutige sogenannte Assistenten unter misslichen Wetterbedingungen.

Mercedes-Benz setzt in seinem Erprobungsfahrzeug zehn Kameras, fünf Radare und zwölf Ultraschallsensoren ein. Wir hören schon unseren Werkstattmeister jammern, wer das bezahlen soll, falls es mal kracht. Die Schwaben fahren ohne Lidar, auch auf eine hochauflösende Karte verzichten sie. Wir hatten vor unserer Fahrt nicht gedacht, dass damit eine sich derart normal anfühlende Fahrt vor allem durch die Herausforderungen des wuseligen Stadtverkehrs möglich ist. Allzu fern soll der Serieneinsatz nicht sein, wohl zunächst in China, dann in Europa. Denn wo der Stadtverkehr komplexer und oft auch chaotischer ist als irgendwo sonst auf der Welt, wo die Straßen auf zwei, drei Ebenen übereinander geführt werden und sich Dutzende Fahrzeugkategorien den knappen Verkehrsraum teilen müssen, ist Unterstützung womöglich nötiger als auf der deutschen Autobahn. Auf der liefern sich Mercedes und BMW gerade ein Rennen um die maximal mögliche Fahrerunterstützung. Wie viel Mercedes-Benz für diese Zusatzausstattung verlangen wird? Das bleibt noch Betriebsgeheimnis.
Während man die fast freihändige Fahrt mit Mercedes bis zum Start des CLA im Herbst nur als Beifahrer der Entwickler erleben kann, ist solche Technik bei einigen chinesischen Marken schon im Alltagseinsatz. Die Regierung verschärft nach einem tödlichen Unfall mit dem lokalen Star Xiaomi zwar gerade die Regeln und verbietet irreführende Bezeichnung wie „Full Self-Driving“ oder „Autopilot“. Gleichwohl genießen Ingenieure und Programmierer große Freiheiten. Getrieben wird diese Entwicklung allerdings weniger von den Autoherstellern selbst. Es sind Firmen wie der Elektronikgigant Huawei, der die Harmony Intelligence Mobility Alliance geschmiedet hat und darüber gleich mehreren Marken Zugriff auf seine Sensoren und Steuersoftware gewährt.

Der Luxeed wedelt allein durch den dichten Verkehr

Wer deshalb in vergleichsweise nichtssagende Modelle wie den Luxeed R7 steigt, ein Navigationsziel eingibt und das aktiviert, was man bei uns wahrscheinlich noch schlicht Tempomat nennen würde, erlebt mit dem Navigation Cruise Assist sein gelbes Wunder. Hinter dem Lenkrad fühlt sich die Rolle als Passagier noch viel ungewöhnlicher an. Viel mehr als ein Mitfahrer ist man nicht mehr, wenn die Elektronik die Straße scannt und das große Elektro-Coupé seinen eigenen Weg wählt und flink die Spuren wechselt. Auch von den von Katie Melua besungenen Nine Million Bicycles, die es vermutlich nicht nur in Peking, sondern auch in Shanghai gibt, lässt es sich nicht stoppen.
Ein paar Kilometer lang muss man sich fast zwingen, die Hand im Schoß zu lassen, und ist dankbar für die Erinnerung, die einen nach zwei, drei Minuten zum kurzen Kontrollgriff ermahnt. Je öfter der Luxeed allein durch den dichten Verkehr wedelt, sich mal links und mal rechts am Vordermann vorbeimogelt, an der Ampel angehalten und wieder beschleunigt hat, desto normaler fühlt sich das an. Mit jedem Radfahrer und Fußgänger, für die er bremst, wächst das Vertrauen, die Nervosität weicht Entspannung. Auch im Luxeed überlässt man das Linksabbiegen bald gern der Elektronik dank der passgenauen Mischung aus Rücksichtnahme und Rücksichtslosigkeit.

Als der Navigation Cruise Assist das Coupé auf einen großen Parkplatz steuert und die Zielankunft vermeldet, wählt man denn auf dem Bildschirm eine Parklücke aus, tippt ein letztes Mal auf ein Menüfeld und steigt aus, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Nur um schon wieder zu staunen, wie sich der Koloss in zwei, drei Zügen millimetergenau in den schmalen Stellplatz rangiert, die Türen verriegelt und zum Abschied leise blinkt. Zumindest solche Systeme könnten auch bei uns schneller kommen, als es viele für möglich halten. Sobald außerhalb des öffentlichen Raums geparkt wird, sind die Behörden aus der Entscheidung raus. Während wir uns also wohl noch einige Zeit weiter in Eigenregie durch die Rushhour quälen müssen, verliert dann zumindest das Parken seinen Schrecken. Aber wer zweifelt nach solchen Fahrten noch daran, dass der Autopilot auch bei uns bald Alltag wird?